Warum reisen Menschen? Ethnologe Prof. Dr. Hahn im Interview

Die einen verreisen gerne individuell, andere bevorzugen Pauschaltourismus – was allen gemeinsam ist: Sie wollen (ver)reisen, weg aus ihrem Heimatort, etwas anderes sehen, Abwechslung oder Entspannung. Was steckt dahinter, woher kommt dieser Wunsch nach Mobilität? Bestimmt stellt sich jeder Flugtourist erst mal die Frage, was ein Ethnologe zum Thema Reisen sagen kann. Aber Ethnologen beschäftigen sich mit Menschen bzw. Völkern, die unterwegs sind, sowie mit deren Kulturen. Der Blickwinkel hilft vielleicht dabei zu verstehen, warum wir überhaupt (ver)reisen und wie es zur Entwicklung des Flug- und Massentourismus in Deutschland kam.

In unserem Themen-Special geht es um die „Die Geschichte des Fliegens“ und die Entwicklung des Massentourismus. Uns interessiert das vor allem vor dem Hintergrund der Mobilität. Wie lässt Ihrer Meinung nach der Tourismus, wo man ebenfalls unterwegs ist, da einordnen?

Der Tourismus ist keine Überraschung, sondern das, was man eigentlich erwarten konnte. Die Menschen setzen ihre Bedürfnisse nach Mobilität mit anderen Mitteln fort. Was früher eine dauerhafte Mobilität war, ohne an einen Ort zurückzukehren, ist heute vorübergehend. Ich sehe in dem neuen Phänomen des Tourismus eine Kontinuität gegenüber dem Verlust der alten Muster: Muster der Bewegung, des Raumes, Migration, Auswanderung und alles was dazu gehört.

Aber die Gründe haben sich in diesem Fall ja verändert. Früher ist man gewandert weil man überleben musste …

Damit bin ich nicht ganz einverstanden. Die persönlichen Gründe haben sich längerfristig gesehen geändert, aber meine Beschreibung zielt auf die Form und Bewegung ab, und nicht nur auf die Gründe. Den Rhythmus und die Erfahrung aufzubrechen, unterwegs zu sein, irgendwo anzukommen – das ist das, was zu zum grundlegenden Muster menschlichen Verhaltens gehört.

Wie kann man diesen Drang, neue Räume zu erkunden, und das Bedürfnis, unterwegs zu sein, erklären?

Als die Menschen früher unterwegs waren, ging es auch nicht nur um Erschließung, sie sind nicht nur aus Not aufgebrochen. Man ist deswegen aufgebrochen, weil man glaubte, dass es woanders noch besser sein würde. Denken Sie an das Mittelalter und die Römische Zeit: Die Menschen waren ständig unterwegs, als Händler, weil sie zu Ruhm kommen wollten, weil sie neugierig waren. Es ging dabei um Kontaktaufnahme, Interesse, neue Dinge sehen, neue Einkommensquellen erschließen.

Welche Motive gab es außerdem? Kann man Interesse als Motiv bezeichnen?

Ja, Interesse ist ein schönes Wort und ich glaube, dass viele Menschen aus Interesse und Neugierde, mit positiven Erwartungen Dinge tun. Es ist wichtig zu sehen, dass Menschen nicht nur aus ökonomischen Gründen mobil sind und nur von A nach B gehen, weil sie dringend eine neue Einkommensquelle brauchen.

In welches Konzept passt es, wenn Menschen immer an denselben Ort verreisen?

Das ist eine sehr überraschende Beobachtung, dass es eine Form des Tourismus gibt, bei der Menschen immer zur selben Destination gehen. Ich würde sagen, man muss in diesem speziellen Kontext die Bedürfnisse der Menschen genauer betrachten, um das zu erklären. Die Belastung im Alltag z.B.: Daraus ergibt sich, ob ein Mensch Ruhe und Erholung braucht oder ob ihn Neugierde oder Interesse zu mehr drängen. Nicht jeder Mensch ist bereit, im Urlaub Neues aufzunehmen.

Lassen Sie uns konkret über die Einflussfaktoren sprechen. Wenn die einen immer an denselben Ort reisen, die anderen lieber eine Sightseeingtour machen – lässt sich das z.B. mit der sozialen Herkunft des Menschen oder der kulturellen Identität des Menschen erklären?

Überhaupt nicht. Das ist allein von den Bedürfnissen der einzelnen Menschen abhängig. Man kann in diesem Fall die Menschen nicht pauschalisieren. Es gibt sowohl ältere Menschen, die neugierig sind und Kulturreisen buchen, als auch junge Rucksacktouristen. Dann gibt es wiederum Menschen, ob jung oder alt, die lediglich Erholung suchen.

Menschen verreisen auf unterschiedliche Art. Nun ist es zum „Trend“ geworden, Kulturen „hautnah“ mitzuerleben, in dem man zum Beispiel bei den Einheimischen lebt. Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Zeichnen sich hier neue Bedürfnisse ab?

Ich sehe darin nicht so viel Neues. Kulturelle Grenzen verlaufen nicht entlang räumlicher Grenzen. Ich kann z.B. nach Tunesien reisen, ohne meine deutsche Identität in Frage zu stellen, ohne mich für das Land zu interessieren. Das touristische Selbstverständnis beruht sehr oft darauf, dass Bedingungen im Ausland denen der Heimat ähnlich sind: Das wäre ein Modell, in dem Grenzen aufrechterhalten werden, das Interesse gering ist und nur Erholung eine Rolle spielt. Aber es gibt auch das andere Modell, in dem man Reisen benutzt, um Grenzen zu überwinden und sozusagen jenseits des Zaunes zu schauen, wie Menschen leben. Ich bin selbst immer auf der Suche nach einer Bilanz: Ist der Tourismus eine Einrichtung, die Grenzen verfestigt, oder ist der Tourismus eher eine Erfindung, um Grenzen zu überwinden? Ich würde mich freuen, wenn der Tourismus dazu beiträgt, Grenzen zu überwinden. Jedoch ist die Erfahrung oft eine andere. Um ein ganz simples Beispiel zu nehmen: Das Frühstück. Viele sind nicht einmal bereit, etwas anderes zu frühstücken, als das was sie gewohnt sind.

Wie passt das nun mit dem Konzept der transnationalen Identität zusammen? Kann man das auch auf den Tourismus übertragen?

Das ist eine sehr schöne Frage. Es gibt mir die Gelegenheit, auf die Verbindung zwischen verschiedenen wichtigen Konzepten hinzuweisen. In der Geschichte der soziologischen Migrations- und Mobilitätsforschung wurde jegliche Form von Mobilität und Migration vom Tourismus strikt getrennt. Erst in den letzten 10 Jahren hat man entdeckt, dass es hier keine scharfen Grenzen gibt. Wir wissen anhand der Bewegungsmuster nicht, ob jemand ein Migrant oder ein Tourist ist. Wichtig ist zu erfragen, mit welchem Selbstverständnis jemand unterwegs ist. Und somit kommen wir zu meinem eigentlichen Argument zur Erklärung der Mobilität, der Neugier und dem Interesse. Auch der Arbeitsmigrant, weiß nicht, was ihn erwartet und muss abwägen, wie weit er sich auf die neue Kultur einlässt, und wie weit er seine eigene Identität bewahrt. Darum geht es im Transnationalismus: Der Mensch hat die Möglichkeit, eine doppelte Identität zu erlangen. Im Idealfall gilt das auch für den Tourismus. Auch der Tourist wird eine Empathie für sein Zielland entwickeln und im Besten Falle durch Zuwendung zu diesem Land seine eigene Identität erweitern. Das gilt natürlich nicht für alle Touristen.

Kann man den Trend nach dem Erleben einer authentischen, fremden Kultur auch dadurch erklären, dass gerade den jungen Menschen häufig die Verwurzelung in der deutschen Kultur fehlt? Könnten Sie als Ethnologe die Suche nach einer anderen kulturellen Identität bestätigen?

Ich kann das Argument der Entwurzelung nicht teilen. Ich glaube, dass die Verbindung zwischen einer Identitätskrise und neuen Formen des Tourismus überzogen ist. Ich verbinde mit dem Tourismus die Hoffnung auf eine Erweiterung des Selbstbildes, im Sinne der transnationalen Identität.

Zurück zu den Reisetrends: Im Laufe der Jahrzehnte gab es unterschiedliche Vorlieben. Kann man vorhersehen, in welche Richtung sich der Tourismus in den kommenden Jahren verändern wird?

Der Tourismus ist noch ein sehr junges Phänomen, er hat sich in letzter Zeit bereits allein aufgrund anderer Reisemöglichkeiten stark verändert: die Durchsetzung des Automobils, günstigere Flugreisen, technische Entwicklungen. Es dauert nur kurze Zeit, um auf einen anderen Kontinent zu fliegen. Ich bin selbst sehr neugierig und wüsste sehr gerne, wie man in 30 Jahren reist, und vor allem welchen Einfluss die Reisen in 30 Jahren auf das Selbstbild haben werden. Das sind spannende Fragen.

Glauben Sie, man würde in Zukunft ein fliegendes Auto als Reisemittel bevorzugen?

Das ist eine schöne Phantasie (lacht), wer weiß.

Wir bedanken uns sehr herzlich für das Interview, Herr Hahn.


 

Prof. Dr. Hans Peter Hahn lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt am Institut für Ethnologie. Im Sommersemester 2015 hat er eine Gastprofessur am Excellence Cluster TOPOI in Berlin.

Lesetipp:

Eine weitereführende ethonologische Sicht auf das Reisen und Wandern der Menschen hat Herr Hahn auch in dieser Ausgabe des Wissenschaftsmagazings Forschung Frankfurt 2/2013 gegeben: Immer im Aufbruch: Die Menschheit unterwegs

Kategorie des Beitrags: Flugtourismus, Veröffentlicht von: Redaktion Fluggastberatung

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